Forschende haben über 14 Jahre lang das Schlafverhalten von 53 Orang-Utans untersucht und herausgefunden: Auch die uns Menschen so ähnlichen Primaten kompensieren Schlafmangel durch Nickerchen während des Tages. Und es gibt einen Zusammenhang mit ihrer Kognition.
Menschen und Orang-Utans teilen 97 Prozent DNA, das ist lange bekannt. Unsere große Ähnlichkeit zeigt sich in vielerlei Hinsicht: So sind Orang-Utans in der Lage, sich Werkzeuge auszudenken und herzustellen, um damit Probleme zu lösen. Sie sind fähig zu sozialem Lernen, sie können Humor und Empathie zeigen. Und offensichtlich haben auch sie manchmal tagsüber zusätzlichen Schlafbedarf.
„Sich durch die Baumkronen zu bewegen, Nahrung zu finden, Probleme zu lösen, soziale Beziehungen zu pflegen — all das sind anstrengende und kognitiv anspruchsvolle Aufgaben“, sagt Dr. Alison Ashbury, die Erstautorin der Studie. Als Bewältigungsstrategie haben Orang-Utans einen Weg gefunden, der uns sehr bekannt vorkommen dürfte: „Bei Menschen kann selbst ein kurzes Nickerchen erhebliche positive Auswirkungen auf die Erholung haben“, erklärt Mitautorin Meg Crofoot, Direktorin am Max-Planck-Institut und Professorin an der Universität Konstanz. „Es ist möglich, dass diese Nickerchen den Orang-Utans dabei helfen, sich nach einer schlechten Nacht physiologisch und kognitiv zu erholen — genau wie beim Menschen.“
Die Forschenden beobachten wildlebende Orang-Utans im indonesischen Regenwald
Die Studie mit dem Titel „Wild orangutans maintain sleep homeostasis through napping, counterbalancing socio-ecological factors that interfere with their sleep“ wurde von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie, der Universität Konstanz und der Universitas Nasional in Indonesien gemeinsam durchgeführt. Über einen Zeitraum von 14 Jahren sammelte das internationale Team Daten von 53 Orang-Utans. Dazu beobachteten sie wildlebende erwachsene Tiere in der Suaq Balimbing Monitoring Station auf der Insel Sumatra und zeichneten insgesamt 455 Beobachtungstage und ‑nächte auf.

Die Beobachtung des Schlafes stellte die Forschenden vor eine logistische Herausforderung, denn Orang-Utans schlafen hoch oben in den Baumwipfeln des Regenwaldes, also weit entfernt vom menschlichen Auge. Würde es sich um Vögel handeln, könnte man eine unauffällige Kamera oberhalb des Nestes installieren. Bei Orang-Utans ist es jedoch so, dass sie sich im Laufe des Tages auf Futtersuche durch den Regenwald bewegen und sich Nacht für Nacht – und wie die Forschenden herausfanden: auch für jedes Tagesschläfchen – einen neuen, sicheren Ort suchen. Dort bauen sie sich dann in etwa zehn Minuten, tagsüber in noch kürzerer Zeit, ein Schlafnest.
Schlaf ist im Labor gut untersucht, die freie Wildbahn ermöglicht neue Erkenntnisse
Die dem Schlaf unterliegenden Prozesse und die Vorteile des Schlafs sind im Labor gut untersucht. Die Forschenden betonen in ihrer Arbeit jedoch, dass es unabdingbar sei, Schlaf auch in freier Wildbahn unter den natürlichen sozialen und ökologischen Bedingungen zu erforschen. Nur so sei es möglich, unser Verständnis der evolutionären Ursprünge und der Funktionen des Schlafs zu erweitern und Fragen zu klären wie: Warum verbringen Orang-Utans einen so großen Teil ihres Lebens in diesem verletzlichen, unbewussten Zustand? Welche Kompromisse müssen sie eingehen, welche Abwägungen zwischen Schlafbedürfnis, sozialen, ökologischen und anderen Anforderungen treffen? Erste Hinweise auf diese Fragestellungen hat die vorliegende Studie ergeben, doch es sind noch weitere, vertiefende Studien nötig. „Wir müssen die Schlafforschung aus den Labors in die Natur bringen“, betont Crofoot.
Um die Beobachtung in freier Wildbahn zu ermöglichen, legten die Forschenden des Instituts für Verhaltensbiologie daher Geräusche als Indikator für die Schlaf- und Wachphasen fest. Wenn sich ein Orang-Utan aus seinem Schlafnest bewegt, ist das weithin hör- und sichtbar durch lautes Rascheln und Bewegungen in der Baumkrone. War der Orang-Utan hingegen ins Nest geklettert und es kehrte Ruhe ein, werteten die Forschenden dies als Schlafzeit.
So fanden sie heraus, dass Orang-Utans im Durchschnitt fast 13 Stunden pro Nacht schlafen. Und dass es Faktoren gibt, die den Nachtschlaf beeinträchtigen und verkürzen: Dazu gehörten kältere Nachttemperaturen, die abendliche Anwesenheit anderer Orang-Utans sowie das Zurücklegen weiter Distanzen am Vortag.
Beneidenswert: Orang-Utans schlafen durchschnittlich 13 Stunden pro Nacht
„Wir fanden es sehr interessant, dass allein die Anwesenheit von anderen Orang-Utans beim Bau eines Nachtnests mit kürzeren Schlafzeiten verbunden war“, sagt Dr. Alison Ashbury, Erstautorin der Studie und Evolutionsbiologin am Max-Planck-Institut und an der Universität Konstanz. “Es ist etwa so wie wenn Sie lange aufbleiben, wenn Sie Freunde zu Besuch haben, oder Ihr Mitbewohner morgens so laut schnarcht, dass Sie früher als sonst aufstehen. Sie scheinen der Geselligkeit den Vorrang vor dem Schlafen zu geben, oder ihr Schlaf wird durch die Anwesenheit von anderen gestört — oder gar beides zusammen.”
Powernaps kompensieren Schlafmangel in der Nacht
Um zu verstehen, wie sich Orang-Utans von verlorenem Nachtschlaf erholen, beobachteten die Forschenden auch das Schlafverhalten am Tag. Dabei fanden sie einen eindeutigen Kompensationseffekt: Je mehr Schlaf in der Nacht verpasst wurde, desto länger das Nickerchen am Tag. Pro Stunde verpasstem Nachtschlaf verlängerte sich der Powernap am Tag um fünf bis zehn Minuten.
An rund 41 Prozent der beobachteten Tage hielten die Orang-Utans mindestens ein Nickerchen. Die durchschnittliche Dauer dieser Nickerchen betrug 76 Minuten. Die Nickerchenstrategie wird möglicherweise durch ihre halbsolitäre Lebensweise ermöglicht: Während in Gruppen lebende Primaten sich ständig mit ihren Artgenossen abstimmen müssen, können Orang-Utans freier entscheiden, wann und wo sie schlafen wollen.

Interessante Nebenbeobachtung: Auch für das Nickerchen am Tag bauen sich Orang-Utans stets ein neues Schlafnest. Diese sind jedoch einfacher und schneller gebaut – nämlich in nur etwa zwei Minuten – als die Nachtnester. Sie bieten weniger Komfort, sind weniger raffiniert, aber bieten ebenfalls einen sicheren und stabilen Ort für ein entspanntes Schläfchen.
Die Forschenden glauben, dass ihre Erkenntnisse mit der Kognition der Orang-Utans in Zusammenhang stehen könnte. Die für die Studie beobachtete Suaq-Population von Orant-Utans auf Sumatra ist für ihren Werkzeuggebrauch und ihre kulturelle Komplexität bekannt. „Von allen untersuchten Orang-Utan-Populationen weisen die Suaq-Orang-Utans wohl das breiteste Spektrum an kognitiv anspruchsvollen Verhaltensweisen auf“, sagt Caroline Schuppli, die die Forschung an der Suaq Forschungsstation leitet.
Zusammenhang zwischen Kognition der Orang-Utans und höherem Schlafbedürfnis
Nun gibt es zwei mögliche Interpretationen dafür: Entweder brauchen Orang-Utans die Nickerchen am Tag, um ihren kognitiven Anforderungen gerecht zu werden. Oder aber die ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten konnten sich überhaupt erst dadurch entwickeln, dass die Orang-Utans sich tagsüber regelmäßig eine Auszeit gönnen und einen Powernap machen.
Es sind spannende Erkenntnisse, die wieder einmal aufzeigen, wie ähnlich Orang-Utans uns Menschen sind. Und wie wichtig es ist, diese faszinierende Spezies weiter zu erforschen. Nicht zuletzt weil wir das, was wir gut kennen, noch besser schützen können.
Quelle: “Wild orangutans maintain sleep homeostasis through napping, counterbalancing socio-ecological factors that interfere with their sleep” , Ashbury, Alison M. et al.