21. Mai 2019

Orang-Utans können über die Vergan­gen­heit sprechen

Brummen, krei­schen, schmatzen: Wie im gesamten Tier­reich ist diese Form Warnungen auszu­drü­cken, auch bei den Orang-Utans sehr verbreitet. Alarm­rufe können Grup­pen­mit­glieder vor Feinden warnen, ja sogar Infor­ma­tionen über die Art des Raub­tiers sowie dessen Posi­tion liefern. 

Bislang sind außer dem Menschen aller­dings nur wenige Tiere bekannt, die vor einer Gefahr nicht nur unmit­telbar sondern auch mit zeit­lich großem Abstand warnen können. Was in der Forschung unter dem Begriff „displaced refe­rence“ beschrieben wird, galt bislang für andere Primaten als ausge­schlossen. Forscher fanden jetzt jedoch heraus, dass Orang-Utans sehr wohl in der Lage sind, zeit­lich versetzt zu alar­mieren, und fanden damit viel­leicht sogar einen Hinweis auf unsere evolu­tio­näre Entwicklung.

Sprache im Tierreich

Warnungen erfolgen bei Tieren in der Regel in Echt­zeit, solange die Gefahr besteht. Auch Menschen warnen: durch Sprache und Schreie, wobei letz­tere zwar nütz­lich sind, um Alarm zu schlagen, aber nicht wirk­lich infor­mativ. Die mensch­liche Sprache nutzt eine einzig­ar­tige Funk­tion, die als „displaced refe­rence“, also als verscho­bener Bezug, bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um die Möglich­keit, Infor­ma­tionen über vergan­gene oder zukünf­tige Ereig­nisse zu teilen oder über etwas, das momentan nicht vorhanden ist.

Einer neuen Studie zufolge können Orang-Utans ebenso wie Menschen mit einer zeitlichen Verzögerung warnen

Einer neuen Studie zufolge können Orang-Utans ebenso wie Menschen mit einer zeit­li­chen Verzö­ge­rung warnen

 

Dieser versetzte Bezug ist in allen mensch­li­chen Spra­chen zu finden und wird in der Tat als ein primäres Kenn­zei­chen von Sprache ange­sehen. Über den Menschen hinaus ist ein verscho­bener Bezug im Tier­reich eher selten. Unter den Primaten besitzt nur der Mensch diese beson­dere Kommu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit. So zumin­dest die lang­jäh­rige Annahme. Denn Forscher an der Univer­sität von St. Andrews in Schott­land haben jetzt heraus­ge­funden, dass auch Orang-Utans den verscho­benen Bezug verwenden können, um über vergan­gene Ereig­nisse zu sprechen.

Das Expe­ri­ment

Adriano Lameira, Prima­to­loge in St. Andrews, führte dazu eine faszi­nie­rende Studie im Ketambe-Dschungel auf Sumatra durch. Dafür entwi­ckelte er ein Expe­ri­ment, bei dem sich Wissen­schaftler quasi als Raub­tiere „tarnten“ und auf einem Baum sitzende Orang-Utan-Mütter mit ihrer Anwe­sen­heit konfron­tierten. Hilfs­mittel waren dabei präpa­rierte Blätter mit Farb­mus­tern (Tiger­print, Weiß, Weiß mit mehr­far­bigen Flecken und abstrakte Farbmuster).

Im Laufe des Expe­ri­ments bewegte sich ein getarnter Mitar­beiter langsam über den Wald­boden in der Nähe der Orang-Utan-Mutter. Sobald er von dieser gesehen wurde, hielt das künst­liche „Raub­tier“ zwei Minuten lang inne und bewegte sich dann außer Sichtweite.

Dieses Proce­dere wurde 24 mal wieder­holt. In der Hälfte der Versuche wartete die Mutter durch­schnitt­lich sieben Minuten, bevor sie einen Alarm absetzte. In einem weiteren Fall wartete ein Orang-Utan fast 20 Minuten ab, nachdem er das „Raub­tier“ entdeckt hatte, bevor er einen längeren Alarm auslöste.

Von ihrer Warnung profitieren vor allem Mütter und deren Kinder

Von Warnungen profi­tieren vor allem Mütter und Babys

 

Orang-Utans warnen Artge­nossen und Nachwuchs

Diese lange Zeit­spanne, bevor ein Alarm ausge­löst wurde, beob­ach­teten die Wissen­schaftler nicht nur, wenn der Orang-Utan allein war, also wenn er die Gefahr ledig­lich für sich selbst wahr­nahm. Auch wenn die Tier­mütter davon ausgehen konnten, dass ihr Kind in Gefahr war, dauerte es teil­weise lange, bevor eine Warnung ausge­rufen wurde.

Warum jedoch ließen die Primaten teil­weise so viel Zeit vergehen, bevor sie Alarm schlugen?

Lamiera vermutet, dass die Tiere abwägen, ob sie mit ihrer unmit­tel­baren Warnung die Gefahr für Artge­nossen eher verschlim­mern. Sie könnten beispiels­weise das Risiko eingehen, den eigenen Standort oder den von Artge­nossen mit Kindern zu verraten. Ein „displaced refe­rence“ könnte in diesem Fall eine Art Sicher­heits­ma­növer sein, gefolgt von der Notwen­dig­keit über die gerade vorüber­ge­gan­gene Gefahr zu unterrichten. 

Orang-Utan-Mütter warten mit dem Ausstoß eines Warnrufs eher, bis potentielle Angreifer nicht mehr in unmittelbarer Nähe sind

Orang-Utan-Mütter warten mit dem Ausstoß eines Warn­rufs eher, bis poten­ti­elle Angreifer nicht mehr in unmit­tel­barer Nähe sind

Tatsäch­lich beob­ach­teten die Forscher, dass Mütter mit jüngeren, weniger erfah­renen Nach­kommen eher einen verzö­gerten Alarmruf ausstießen als Mütter mit älteren Nach­kommen. Diese Fähig­keit der verscho­benen Refe­renz wurde bei anderen Primaten wie Lemuren oder anderen großen Affen, von denen bekannt ist, dass sie Stim­malarme auslösen, sobald ein künst­li­ches Raub­tier entdeckt wird, nicht beobachtet.

Wie Lamiera und sein Kollege Josep Call in ihrem in Science Advances veröf­fent­lichten Artikel erläu­tern, deuten diese neuen Erkennt­nisse auf eine Form der Wahr­neh­mung höherer Ordnung bei Orang-Utans hin. “Das Verschieben von Verhalten in Zeit und Raum drückt von Natur aus die Rolle einer hohen kogni­tiven Verar­bei­tung des Reizes und der allge­meinen Intel­li­genz aus”, sagt Lamiera.
“Unsere Beob­ach­tungen legen daher ein Szenario für die Sprach­ent­wick­lung bei Homi­niden nahe.”

Mit anderen Worten, verscho­bener Bezug kann mehr als nur ein Kenn­zei­chen der Sprache sein, er könnte ein grund­le­gender Bestand­teil der evolu­tio­nären Entwick­lung sein.

Werden auch Sie zum BOS-Unter­stützer. Mit Ihrer Spende helfen Sie den Orang-Utans, dem Regen­wald und damit auch unserem Klima. Jeder Beitrag hilft.

 

 

Quelle: Lamiera, A and Call, J (2018) Time-space–displaced responses in the oran­gutan vocal system. Science Advances vol. 4, no. 11, eaau3401

Wir danken Jan Mücher für diesen Beitrag