Als das BOS-Rettungsteam einem Notruf folgend bei Mutter und Kind eintraf, ahnten die Retter noch nicht, welch ein trauriges Schicksal sie erwarten würde. Hoch im Baum, nicht weit entfernt von einer Dorfgemeinschaft, saß ein abgemagertes Orang-Utan-Weibchen, ihren kleinen Sohn fest an sich gedrückt. Die beiden hatten sich weit vom dichten Regenwald entfernt. Sollte mit ihnen alles in Ordnung sein, würden unsere Mitarbeiter sie direkt in ein geschütztes Waldgebiet umsiedeln.
Nun mussten wir schnell handeln, um die Tiere nicht unnötig zu stressen. Sofort wurde das Betäubungsgewehr geladen und nach einem gezielten Schuss landete das Weibchen glücklicherweise sicher in unseren Auffangnetzen – immer der heikelste Moment bei einer Orang-Utan-Rettungsaktion.
Schon die erste Untersuchung der Mutter durch unsere Tierärzte vor Ort ließ unsere schlimmsten Befürchtungen wahr werden: Dieser Menschenaffe brauchte dringend Hilfe! An eine direkte Umsiedlung in ein Schutzgebiet war nicht zu denken. Mit nur 25 Kilogramm Körpergewicht war die Orang-Utan-Mutter stark untergewichtig (normal für einen gesunden, ausgewachsenen Orang-Utan wären über 40 Kilo).
An Kopf und Händen entdeckten die Tierärzte schwere Schnittverletzungen. Der Zeigefinger der rechten Hand ist abgetrennt. Diese Orang-Utan-Mutter war definitiv mit Waffen angegriffen worden. Höchste Zeit, sie und ihr Baby in Sicherheit zu bringen.
Die Experten von BOS geben ihr Bestes
In Sicherheit
In der Klinik des BOS-Rettungszentrums Samboja Lestari bestätigte sich der grausame Verdacht, dass Jubaedah, wie wir das Weibchen genannt haben, von Menschen mit Waffengewalt angegriffen worden war: Fünf Kugeln wurden in ihrem Körper gefunden – in Kinn, Brust, Achsel und in beiden Beinen. Auf diese Mutter war geschossen und vermutlich mit einer Machete eingeschlagen worden. „Glücklicherweise war ihr Sohn, wir nennen ihn Jubaedi, unverletzt und gesund“, berichtet unserer Tierärztin Agnes. „Seine Mutter hat ihn fast unter Einsatz ihres Lebens beschützt und genährt.“ Mit zwei Jahren ist Jubaedi noch ein Orang-Utan-Baby, wird von seiner Mutter gesäugt. Hätten wir seine Mutter und ihn nicht rechtzeitig retten können, hätte er allein keine Chance gehabt zu überleben. Denn sechs bis acht Jahre sind Orang-Utan-Kinder komplett auf die Mutter angewiesen.
Eine tapfere Orang-Utan-Mutter
Wie aufopferungsvoll sich Jubaedah um ihren kleinen Sohn gekümmert hat, zeigten die genaueren medizinischen Tests: Die Orang-Utan-Mutter litt unter einer ausgeprägten Anämie, war stark dehydriert und hatte einen extrem niedrigen Blutzuckerspiegel. Dass sie sich überhaupt noch in einem Baum halten konnte, grenzt an ein Wunder. Vermutlich war sie aufgrund ihres körperlichen Zustands schon längere nicht in der Lage, allein in den Regenwald zurückzufinden, wo sie Nahrung und Schutz gefunden hätte. So blieb ihr nichts anderes übrig, als in der Nähe von Menschen nach Nahrung zu suchen – eine lebensgefährliche Situation.
Erst diese Woche veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat IPBES erschreckende Zahlen zum Artensterben. Einer der Hauptgründe ist der Verlust von Lebensräumen. So wurden von 1980 bis 2000 rund 100 Millionen Hektar intakter Regenwald gerodet– unter anderem um Ölpalmplantagen in Südostasien (7,5 Millionen Hektar) oder Viehweiden in Lateinamerika (rund 42 Millionen Hektar) anzulegen. Weiterhin wurden zwischen 2010 und 2015 in den Tropen mit ihrem hohen Artenreichtum 32 Millionen Hektar Primärwald zerstört. Mit jedem Hektar zerstörtem Regenwald wird der Lebensraum für die vom Aussterben bedrohten Orang-Utans immer kleiner und Konflikte zwischen Tier und Mensch häufen sich. So wie auch in diesem Fall.
Jetzt dürfen sich Mutter und Kind aber erstmal im BOS-Rettungszentrum Samboja Lestari erholen. Hier werden die körperlichen Wunden heilen. Und die tapfere Orang-Utan-Mutter kann Kraft sammeln, bevor sie mit ihrem Sohn in einem geschützten Regenwald einen Neuanfang starten darf.