Neben der non-verbalen Kommunikation, die mindestens fünfzig Prozent der Kommunikation zwischen Individuen einnimmt, hat die verbale Kommunikation einen erheblichen Anteil am gegenseitigen Verständnis.
Verbale Kommunikation besteht aus stimmhaften und stimmlosen Lauten. Bei ersteren werden die Laute mithilfe der Stimmlippen produziert, z. B. /a/ oder /u/. Stimmlose Laute werden unabhängig der Stimmlippen gebildet. Sie werden vielmehr durch Bewegungen der Zunge, der Lippen und des Kiefers beeinflusst (Lameira, Maddieson, & Zuberbühler, 2014).
Schon seit Längerem ist sich die Forschung des Lautrepertoires der Primaten bewusst. Sowohl stimmhafte, als auch stimmlose Laute kommen in der Kommunikation der Menschenaffen vor. Überdurchschnittlich ist jedoch ihre Fähigkeit und Reichhaltigkeit stimmlose Laute zu bilden. Klicken, Schnalzen, Kussgeräusche und Knacken gehören somit zur alltäglichen Kommunikation in den Primatenpopulationen. Durch Studien des englischen Forschers Serge Wich (Wich et al., 2009) konnte soziales Lernen innerhalb der Kommunikation der Orang-Utans nachgewiesen werden. Es konnten beim Nestbau der Sumatra-Orang-Utans andere Laute beobachtet werden, als bei den Populationen der Borneo-Orang-Utans. Andere Populationen auf beiden Inseln waren hingegen still bei der Errichtung neuer Nester. Wiederum unterscheiden sich einige Laute freilebender Orang-Utans von Artgenossen in der Gefangenschaft. Dies liefert klare Evidenzen für die These, dass Orang-Utans und andere Primaten (vor allem Schimpansen) in der Lage sind, durch soziales Lernen ihre vokalen Fähigkeiten zu modifizieren und fast schon zu revolutionieren.
Alle Studien zu diesem Thema waren bisher geprägt durch intensives menschliches Training. Umso erstaunlicher ist die erste nachgewiesene Imitation menschlicher Laute ohne dieses Training. Sie geschah aus dem Nichts – spontan. Das Orang-Utan-Weibchen Bonnie lebt seit 1983 in einem Zoo in Washington D.C.. Nachdem bisher unbekannte Laute in ihrem Rufverhalten beobachtet worden sind und auch das Orang-Utan-Weibchen Indah ähnliche atypische Laute von sich gab, begannen die Wissenschaftler um Serge Wich den Fall Bonnie zu untersuchen. Leider war bei Indah keine empirische Untersuchung mehr möglich, da sie bereits verstorben war und in einem anderen Zoo unterbracht war. Indah war neben Bonnie die zweite belegte Orang-Utan-Dame, die Laute des Menschen spontan imitieren konnte. Bonnie wurde in den 2000er-Jahren mehreren Tests unterzogen. Zuerst wurde ihre Lautsequenz aufgenommen und digitalisiert, um ein auswertbares Spektrogramm zu erhalten. Es handelte sich dabei um eine Art Pfeifen. Daraufhin wurde die Sequenz bezüglich der niedrigsten, höchsten und maximalen Frequenz überprüft und die Dauer des jeweiligen Pfeifens analysiert. In der Folge fanden zehn Tests statt, in denen es unterschiedlichste Formen menschlicher Intervention gab, z. B. gab es die Aufforderung „Bonnie can you make a whistle?“ oder eine menschliche Pfeif-Sequenz wurde eingespielt. Die Ergebnisse zeigen, dass sich Bonnie durchaus von der menschlichen Sequenz beeinflussen ließ. Waren die menschlichen Pfiffe länger, waren auch ihre Pfiffe im Anschluss signifikant länger. Auch produzierte sie eher zweifache Pfiffe, wenn in der menschlichen Spur zweifache Pfiffe vorkamen.
Zwar lässt sich durch diese Studie von Wich und Kollegen eine Beeinflussung durch den Menschen auf die Sequenz des Orang-Utans empirisch belegen, jedoch nicht, dass er für das Lernen der Laute bei Bonnie verantwortlich war. Sie sind also in der Lage auf menschliche Laute zu reagieren und ihre Dauer sowie die Anzahl der Pfiffe zu kopieren. Aber dieses Kopieren kann nicht geschehen, so lange ein Orang-Utan nicht die Fähigkeit erlernt hat, menschliche Laute zu produzieren. Seit 1983 wurde dies nie mit Bonnie trainiert. Es handelt sich also um eine Form des individuellen Lernens. Auch findet die Produktion dieser Laute nicht nur im kommunikativen Prozess mit Menschen statt. Bonnie zeigte nämlich auch menschliche Laute, wenn sie nur für sich war. Eine Interaktion ist dafür nicht notwendig gewesen. Auch beim Orang-Utan-Männchen Rocky konnten 2012 nach der Auswertung von 12.000 Stunden Videomaterial menschliche Laute nachgewiesen werden (Lameira et al., 2016).
Das erste Mal in Deutschland wurden derartige Laute beim Orang-Utan-Weibchen Tilda 2014 nachgewiesen. Verhaltensforscher um Lameira fanden neben Pfiffen, auch menschenähnliche Vokallaute und Zungenklicks (Lameira et al., 2015).
Bisher konnten die menschlichen Laute bei Orang-Utans nur in der Gefangenschaft nachgewiesen werden. Interessant bleibt es zu erforschen, ob diese Laute durch menschlichen Kontakt bedingt sind. Zwar scheint kein Training notwendig zu sein, könnte doch aber der tägliche Umgang mit Menschen das Erlernen dieser Fähigkeit begünstigt haben. Inwieweit der Effekt des sozialen Lernens genau eine Rolle spielt, kann nur durch eine Vergleichsstudie mit Orang-Utans in freier Wildbahn bewiesen werden. Die Zukunft wird zeigen, ob derartige Studien möglich sind. Doch führen uns die jetzigen Erkenntnisse vor Augen, dass wir uns noch ähnlicher sind, als wir dachten.
Jan Mücher