6. Juni 2017

Rote Liste der bedrohten Arten — Versuch einer Inventur des Lebens

Genau weiß man es nicht – Wissen­schaftler schätzen die Anzahl sämt­li­cher Tier‑, Pilz- und Pflan­zen­arten auf fünf bis 30 Millionen. Iden­ti­fi­ziert sind bislang „nur“ etwa zwei Millionen Spezies. Das heißt nicht etwa, dass man alles von ihnen wüsste. Von vielen Arten ist einfach nur bekannt, dass es sie gibt. Noch jedenfalls.

Denn pro Jahr verschwinden geschätzt mehrere tausend Arten auf Nimmer­wie­der­sehen — eine gegen­wär­tige Ausster­be­rate, die mögli­cher­weise tausend- bis zehn­tau­sendmal so groß ist wie es die natür­liche Ausster­be­rate wäre. Darunter  auch Tiere und Pflanzen, von deren Exis­tenz wir noch gar nichts erfahren haben…

 

Die rote Liste

Doku­men­tiert wird dies von der im schwei­ze­ri­schen Gland ansäs­sigen Inter­na­tional Union for Conser­va­tion of Nature – IUCN. Hinter dieser Orga­ni­sa­tion stehen Minis­te­rien und andere Stellen verschie­dener Staaten, sowie inter­na­tio­nale und natio­nale Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen. Seit 1963 ermit­teln Experten auf Basis möglichst aller verfüg­baren Daten alle fünf bis zehn Jahre die soge­nannte Ausster­be­wahr­schein­lich­keit verschie­denster Tier- und Pflan­zen­arten. Viel­schich­tige Nutzungs­ana­lysen zum Beispiel aus Land­wirt­schaft, Fischerei und Jagd, sowie lang­fris­tige Natur­be­ob­ach­tungen fließen in mathe­ma­ti­sche Modelle ein und verdichten sich schließ­lich zur soge­nannten „Rote Liste der bedrohten Arten“ (siehe PDF am Ende des Beitrages).

 

Die Rote Liste defi­niert sieben Stadien der Bestandsentwicklung:

EX Extinct (ausge­storben zwischen dem Jahr 1500 und der Gegenwart)

EW Extinct in the Wild  (in freier Wild­bahn ausgestorben) 

CR Criti­cally Endan­gered  (vom Aussterben bedroht)

EN Endan­gered  (stark gefährdet) 

VU Vulnerable (gefährdet) 

NT Near Threa­tened  (gering gefährdet, auf der Vorwarnliste)

LC Least Concern (nicht gefährdet)

Daneben wird noch unter­schieden zwischen

DD Data Defi­cient (unzu­rei­chende Daten)

NE Not Evaluated  (nicht bewertet)

Zu den letzten beiden Gruppen gehört die über­große Mehr­heit aller Spezies: Bislang konnte die IUCN ledig­lich wenig mehr als 70.000 Arten in das Bewer­tungs­system aufnehmen.

 

Zentrale Krite­rien der Eintei­lung sind Popu­la­ti­ons­größen mit der Anzahl fort­pflan­zungs­fä­higer Indi­vi­duen, der Fort­pflan­zungs­rate und der Gene­ra­tio­nen­länge sowie die jeweils aktu­elle Rate des Bestands­rück­gangs und dessen zeit­liche Dauer in der Vergan­gen­heit. Wich­tige Merk­male sind auch starke Bestands­fluk­tua­tionen und insge­samt die geogra­fi­sche Verbrei­tung. So stellen Frag­men­tie­rung („Verin­se­lung“) und Rück­gang ursprüng­lich zusam­men­hän­gender Vorkom­mens­ge­biete sehr oft einen bedeu­tenen Faktor der Bedro­hungs­ana­lyse dar.

Letz­teres gilt gerade auch für den Borneo-Orang-Utan. Zwischen 1973 und 2010 wurden 56 Prozent des Lebens­raumes der Orang-Utans zerstört und 39 % sind voll­ständig verschwunden – ein Gebiet größer als Portugal (fast 99.000 km²). Bis 2025 werden voraus­sicht­lich weitere 57.000 km² Wald in Plan­tagen umge­wan­delt, etwa die doppelte Fläche Belgiens. Eben diese fort­dau­ernde Bedro­hung des Lebens­raumes der Orang-Utans hat die Experten dazu veran­lasst, Anfang 2016 den Bedro­hungs­status von Pongo pygmaeus zu revidieren.

Hinzu kommt, dass Orang-Utans schon natür­li­cher­weise zu den Säuge­tieren mit der geringsten Fort­pflan­zungs­rate zählen. Ein Orang-Utan-Weib­chen in der Wildnis bringt im Laufe von viel­leicht 40 Jahren in der Regel nicht mehr als drei Junge zur Welt. Jedes einzelne von ihnen hat durch die lang­jäh­rige Fürsorge der Mutter eine im Vergleich zu vielen anderen Wild­tieren sehr gute Chance, seiner­seits das fort­pflan­zungs­fä­hige Alter zu errei­chen. Die nied­rige Repro­duk­ti­ons­rate macht jede Orang-Utan-Popu­la­tion aber noch zusätz­lich verwundbar.

 

Intakte Habi­tate als Schlüssel zum Überleben

Wie schon vorher sein Vetter Pongo abelii auf Sumatra, gehört nunmehr auch der Borneo-Orang-Utan zu den vom Aussterben bedrohten Spezies.

Dass die Orang-Utans auf Borneo gefährdet sind, ist wahr­lich nicht neu, aber criti­cally endan­gered – also akut vom Aussterben bedroht – schienen sie bisher dann doch noch nicht zu sein. Laut neuen Studien jedoch werden, gerechnet ab 1950 bis zum Jahr 2025, ca. 82 Prozent der Borneo-Orang-Utans verschwunden sein.

Die alar­mie­rende Herauf­set­zung des Bedro­hungs­status begründet sich ganz wesent­lich durch den rapiden Verlust an Lebens­raum. Wenn immer mehr Regen­wald zugunsten von Bergbau oder riesiger Plan­tagen vernichtet wird und die verblei­benden Wald­ge­biete immer mehr zerstü­ckelt und zerteilt werden, bleibt den rothaa­rigen Menschen­affen keine Lebens­grund­lage in freier Wildbahn.

 

Gegen das große Verschwinden

Dass über die Jahr­mil­lionen Arten aussterben, ist ganz natür­lich. Was wir jetzt erleben, ist aller­dings ein Massen­aus­sterben inner­halb eines erdge­schicht­lich gesehen winzigen Augen­blicks. Aber auch, dass ein großer Teil aller exis­tie­renden Spezies mehr oder weniger plötz­lich einer globalen Kata­strophe zum Opfer fällt, ist in der langen Geschichte des irdi­schen Lebens schon einige Male geschehen. Nur haben wir jetzt etwas völlig Neues: Verant­wor­tung. Unsere Spezies ist nicht nur einfach ursäch­lich für den gegen­wär­tigen Floren- und Faunen­schwund, sondern weiß auch um ihr eigenes Wirken. Und sie kann dieses Wirken verän­dern und zum Besseren wenden.

Noch leben fort­pflan­zungs­fä­hige Orang-Utan-Popu­la­tionen, noch ist nicht aller Wald abge­holzt. Vom Aussterben bedroht bedeutet im Umkehr­schluss, dass sie eben noch nicht ausge­storben sind. BOS und seine Unter­stützer welt­weit können immer noch den Unter­schied machen!