Im Mawas-Gebiet auf Borneo in der Provinz Zentralkalimantan lebt mit ungefähr 3.000 Individuen eine der letzten größeren wilden Orang-Utan-Populationen. Dort unternimmt die indonesische BOS Foundation neben Renaturierungsarbeiten auch Neuansiedlungen von Orang-Utans. Letztere werden im Rahmen des Tuanan-Orangutan-Research-Projektes der Universität Zürich erforscht.
Für diese große Langzeitaufgabe erhebt ein internationales Forscherteam aus verschiedenen Disziplinen seit 16 Jahren möglichst viele Daten über alteingesessene und neu angesiedelte Orang-Utans. Wertvolle Erkenntnisse zum Schutz der bedrohten Menschenaffen sollen so gewonnen werden. Dr. Maria A. van Noordwijk untersucht vor allem die Entwicklung und das Verhalten weiblicher Orang-Utans im Schutzgebiet. Vor Kurzem referierte sie auf einer Veranstaltung über ihre neuesten Forschungsergebnisse.
Weibliche Orang-Utans sind geselliger als Männchen
Gerade in ihrer Forschungsdomäne ist es bemerkenswert, wenn neues Wissen generiert wird. Schließlich ist die möglichst lückenlose Datengewinnung über die Entwicklung von Orang-Utans allgemein eine schwierige Aufgabe, da die Menschenaffen nicht selten mehrere Jahrzehnte leben. Daher sind Langzeitdaten besonders wichtig, jedoch auch knapp. Van Noordwijk berichtet, dass die Orang-Utans in ihren ersten sechs oder sieben Jahren mit der Mutter zusammenleben und in dieser Zeit auch gesäugt werden. Mit 15 Jahren sind weibliche Orang-Utans ausgewachsen. Im Unterschied zu den männlichen Artgenossen, leben weibliche Orang-Utans in den ersten 15 Jahren sehr eng mit der Mutter zusammen. Viele von ihnen werden über 50 Jahre alt. Während ihres kompletten Lebens haben Mütter und Töchter eine Beziehung zueinander und leben in der Nähe zueinander. Auch Schwestern haben weiterhin untereinander Kontakt. Obwohl sie auch viel Zeit jeweils alleine verbringen, halten sie durch regelmäßige soziale Events ein stabiles gemeinschaftliches Netzwerk aufrecht. Diese Gemeinschaft scheint gerade für weibliche Orang-Utans sehr wichtig zu sein.

Im Gegensatz zu Orang-Utan-Weibchen halten sich männliche Vertreter dieser Menschenaffen nur kurze Zeit (ein paar Monate oder wenige Jahre) im Forschungsgebiet auf, kehren jedoch manchmal auch wieder zurück. Einige Orang-Utan-Männchen konnte van Noordwijk nach einigen Jahren Abwesenheit wieder beobachten. Dies spricht dafür, dass männliche Orang-Utans ein größeres Gebiet benötigen, in dem sie sich bewegen. Ein abschließendes Urteil könne sie sich auf dem Stand der heutigen Daten leider noch nicht erlauben. Nach van Noordwijk wäre es aber für den Schutz der Orang-Utans sehr wichtig, gerade auch Fragen des Wander- und Revierverhaltens klären zu können.
Fremdenfeindlichkeit unter Orang-Utans?
Da die Anzahl der Orang-Utans im Forschungsgebiet während der letzten Jahre stark zugenommen hat, stellte sich für die Forscherin eine neue interessante Frage: Was passiert mit Orang-Utans, die neu in das Gebiet kommen? Werden sie freudig aufgenommen oder stoßen sie auf Ablehnung? Die Ergebnisse sind eindeutig. Wenn neue weibliche Orang-Utans in das Forschungsgebiet kommen, beobachtet Dr. Maria A. van Noordwijk, dass die alteingesessenen Weibchen die Neuankömmlinge regelrecht jagen und attackieren. Aber auch Individuen innerhalb der alteingesessenen Population zeigen sich dann untereinander vermehrt aggressiv. Die Neuansiedlung weiblicher Orang-Utans ist also mit enormen Problemen verbunden. Beide Seiten, die Neuankömmlinge wie die Alteingesessenen, stehen offenbar unter besonderem Stress. Die Neuen erleiden Attacken durch Individuen der bestehenden Population, bei letzteren wird das soziale Netzwerk durcheinander gebracht.
Interessant wäre es, für die Zukunft Parallelen zum Menschen zu ziehen. Schließlich ist eine Ablehnung oder Angst vor fremden Vertretern der eigenen Art, die neu in das eigene Gebiet kommen, nichts Unbekanntes beim Menschen. Im Fachjargon wird so ein Phänomen „Xenophobie“, also Fremdenfeindlichkeit, genannt. Vielleicht gewähren uns Dr. Maria van Noordwijks Ergebnisse einen evolutionär-psychologischen Einblick in die Ursachen von Xenophobie. Bei unseren Verwandten scheint Stress durch die Belastung bestehender sozialer Strukturen, Aggressionen gegen Fremde enorm zu fördern. Weitere Langzeitdaten könnten auch Informationen darüber liefern, wie einige der alteingesessenen Orang-Utan-Populationen diese Herausforderung durchaus meistern und es schaffen, neuangesiedelte Artgenossen zu integrieren. Auch aus diesem Wissen könnten wir als Menschen vielleicht wertvolle Tipps für unsere sozialen Gruppen und Gemeinschaften ableiten. Allerdings sind Schlüsse aus tierischem Verhalten, selbst wenn es um die uns so nah verwandten Primaten geht, immer mit großer Vorsicht zu ziehen. Menschliche Gesellschaften sind dann doch deutlich komplexer als Menschenaffenpopulationen.
Schlüsselproblem: Der Verlust an Lebensraum
Neben diesen Aspekten drängt sich noch eine weitere Frage auf: Warum gab es ausgerechnet in den vergangenen Jahren einen rasanten Anstieg der Zahl weiblicher Orang-Utans im Tuanan-Areal? Dies hängt, so die Wissenschaftlerin, mit den starken Waldbränden von 2015 zusammen, wodurch es zu einem großen Verlust an Lebensraum für die Menschenaffen auf Borneo gekommen ist. Weniger Habitate und mehr Aggressionen und Stress scheinen so einen fatalen Teufelskreis zu bilden.

Aus den Forschungsergebnissen könne man folgendes ableiten: Der Lebensraum der Orang-Utans müsse verstärkt geschützt werden. Der Habitatsverlust ist die Wurzel des Problems. Ohne ihn würde keine Unruhe in die bestehenden Populationen kommen. Männchen scheinen deutlich größere Habitate zu benötigen. Dies und auch die bestehenden sozialen Strukturen sollten in der Zukunft bei der Neuansiedlung verstärkt berücksichtigt werden. Gleichzeitig wären weitere Langzeitdaten über das Sozialleben gerade weiblicher Orang-Utans sehr bedeutend, um ein größeres Verständnis von Aggressionen, Stress und „Fremdenfeindlichkeit“ unserer genetischen Verwandten und damit möglicherweise auch bei uns zu bekommen. Die nächsten Jahre werden also wahrscheinlich weitere interessante und vor allem wissenschaftlich fundierte Neuigkeiten aus dem Tuanan-Orangutan-Forschungs-Projekt hervorbringen.
Gastbeitrag: Jan Mücher
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