Eine Studie von 33 Wissenschaftlern aus der ganzen Welt hat vier Szenarien für die Entwicklung in den nächsten zehn Jahre modelliert. Ihr Fazit: Es gibt gute Voraussetzungen, aber wir müssen noch konsequenter Handeln.
Werden unsere Enkelkinder noch Orang-Utans in freier Wildbahn kennen oder droht dieser majestätischen Art, die uns Menschen so unglaublich ähnlich ist, bald die erneute Heraufstufung auf der Roten Liste der bedrohten Arten? Dieser Frage sind 33 Orang-Utan-Experten rund um den Globus nachgegangen: In ihrer soeben veröffentlichten Studie haben sie verschiedene Szenarien modelliert und untersucht, wie sich die Population des Borneo-Orang-Utans in den nächsten zehn Jahren unter den verschiedenen Annahmen entwickelt.
Die gute Nachricht vorab: Es besteht eine reelle Chance, dass sich die Orang-Utan-Populationen erholt und bis 2122 auf 148 % ihres momentanen Bestandes wächst. Dafür müssen jedoch zwei ganz entscheidende Voraussetzungen erfüllt sein: Die Wilderei und Zerstörung des Lebensraumes der Waldmenschen müssen aufhören!
Jagd und Abholzung ließen Orang-Utans an vielen Orten für immer verschwinden
Seit der moderne Mensch vor etwa 80 000 Jahren in das Verbreitungsgebiet der Orang-Utans auf dem asiatischen Festland eingedrungen ist, wurde die Art verfolgt. Zunächst mit Pfeil und Bogen, dann mit Blasrohren und schließlich mit Schusswaffen haben die Menschen Orang-Utans gejagt. Die unkontrollierte Jagd spielte eine wichtige Rolle beim Aussterben des Orang-Utans in Südchina, Thailand, Vietnam, Kambodscha, auf der Malaiischen Halbinsel, der Insel Java und in verschiedenen Teilen Borneos und Sumatras: Dort kommt die Art bereits heute nicht mehr vor.
Die Menschen begannen außerdem, Wälder in landwirtschaftliche Flächen und Plantagen umzuwandeln. Neben der Wilderei ist diese Zerstörung des Lebensraums der Orang-Utans Hauptgrund für das Verschwinden der Art.
Hier gibt es jedoch bereits eine gute Nachricht zu vermelden: Die Abholzungrate in Indonesien und Malaysia, wo die letzten Orang-Utans leben, ist gesunken! Laut einem Bericht der Organisation Chain Reaction Research wurden im Jahr 2020 “nur” 38.000 Hektar gerodet im Vergleich zu 90.000 Hektar in 2019. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und werden von Expertinnen und Experten noch diskutiert. Großen Einfluss scheint jedoch die Nachhaltigkeitsstrategie “No Peat, No Exploitation” zu haben, nach der viele internationale Unternehmen ausschließlich Zulieferer auswählen, welche sich dem verantwortungsvollen Anbau von Palmöl verpflichten.
Überleben oder Aussterben? Vier Szenarien für die Orang-Utan-Population
Wie kann es nun mit dem Orang-Utan-Schutz weitergehen? Welches sind die besten Strategien? Auch für unsere Arbeit in den Schutzzentren auf Borneo sind die Modelle und Ergebnisse der Forscherinnen und Forscher höchst aufschlussreich. Im Folgenden werden die Szenarien und ihre Auswirkungen kurz vorgestellt.
Überleben oder Aussterben? Vier Szenarien für die Orang-Utan-Population
Wie kann es nun mit dem Orang-Utan-Schutz weitergehen? Welches sind die besten Strategien? Auch für unsere Arbeit in den Schutzzentren auf Borneo sind die Modelle und Ergebnisse der Forscherinnen und Forscher höchst aufschlussreich. Im Folgenden werden die Szenarien und ihre Auswirkungen kurz vorgestellt.
Szenario 1: Weitermachen wie bisher
Als erstes betrachtet die Studie die bisherige Entwicklung und kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis: Wenn sich nichts an der aktuellen Situation ändert, könnte die Orang-Utan-Population in den nächsten zehn Jahren um 27 % schrumpfen. Wenn man bedenkt, dass im Zeitraum 1999 bis 2015 bereits rund 100.000 Orang-Utans alleine auf Borneo verschwunden sind, ist das eine entsetzliche Vorstellung.
Szenario 2: Half Earth – die Hälfte der Erdoberfläche wird zum Naturschutzgebiet
Der US Biologe E.O. Wilson hat diesen Ansatz entwickelt. Wenn die Menschheit verhindern möchte, dass die biologische Vielfalt unseres Planeten weiterhin verloren geht, so seine Modellannahme, dann müsse sie dessen Oberfläche zur Hälfte unter Naturschutz stellen. Nur wenn es uns gelingt, die unberührte Natur zu erhalten, können wir den weiteren Verlust der Biodiversität verhindern.
Dieses Modell legten die Forscherinnen und Forscher der vorliegenden Studie nun für die Wälder Borneos im indonesischen Kalimantan und im malayischen Sabah zugrunde und untersuchten ihre Auswirkungen auf die Orang-Utan-Population.
Das Ergebnis ihrer Berechnungen: Nach dem Half Earth-Modell könnte, im Vergleich zur aktuellen Situation, der Verlust der Orang-Utan-Population bis 2032 um mindestens die Hälfte reduziert werden.
Und es gibt noch eine gute Nachricht: Sabah hat bereits 65% seiner bewaldeten Fläche unter Schutz gestellt und Kalimantan, wo sich die BOS-Rettungszentren befinden, besteht sogar zu 67,1 % aus staatlichem Wald. Auf Borneo wurden die “Half Earth”-Ziele also bereits übertroffen! Leider bislang nur theoretisch, denn noch immer werden in den offiziell geschützten Gebieten illegal Bäume gefällt. Wilderei ist ebenfalls weiterhin ein Problem.
Szenario 3: Whole Earth – ein umfassender Ansatz für Artenschutz
Die Forscherinnen und Forscher der vorliegenden Studie untersuchten als nächstes einen noch weitergehenden Ansatz: Dieser setzt nicht nur den Schutz der Wälder wie im Half Earth-Szenario voraus, sondern eine grundlegende Veränderung der momentanen politischen und wirtschaftlichen Systeme. Ein Schlüsselelement ist hier die Einführung von Gemeinschaftsrechten für die Bewirtschaftung der Wälder. Ein revolutionärer Ansatz, der jedoch einige Risiken birgt. Denn die grundlegenden Veränderungen, die für das Whole Earth-Modell nötig wären, benötigen Zeit für die Umsetzung. In dieser Zeit könnte ein Macht- und Kontrollvakuum entstehen mit fatalen Folgen für die Orang-Utan-Population.
Für den betrachteten Zeitraum der nächsten zehn Jahre geht die Studie daher davon aus, dass das Whole Earth-Szenario die höchsten Verluste in der Orang-Utan-Population zur Folge hätte: Bis zu 56 % Verlust seien innerhalb von zehn Jahren vorstellbar.
Szenario 4: Eine Kombination aus Half Earth und Whole Earth
Die Lösung liegt wie so oft in der Mitte. Zunächst empfiehlt die vorliegende Studie den Half Earth-Ansatz. Hierfür sind bereits sehr gute Voraussetzungen gegeben: Über die Hälfte der Wälder stehen schon heute unter Naturschutz, die Akzeptanz in der lokalen Bevölkerung ist entsprechend groß. Entscheidend ist jedoch, dass der Schutz der Wälder auch tatsächlich gewährleistet und die illegale Abholzung verhindert wird.
Eine weitere Voraussetzung ist die enge Zusammenarbeit mit den lokalen Gemeinden auf Borneo. Hier sind Empowerment-Elemente des Whole-Earth-Ansatzes hilfreich. Die Autorinnen und Autoren der Studie sind sich weitgehend einig, dass ein sensiblerer und gerechterer Umgang mit den Communities zu den wichtigsten Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz zwischen Menschen und Orang-Utans gehört.
Damit bestärkt uns die Studie darin, dass die BOS Foundation mit ihrer Arbeit bereits den richtigen Weg eingeschlagen hat: Wir retten nicht nur Orang-Utans und bereiten sie in unseren Schutzzentren auf ihr künftiges Leben in Freiheit vor, wir beziehen auch die lokalen Gemeinden in unsere Arbeit ein, nicht zuletzt in den Aufforstungsprojekten von Lebenswald in Mawas.
Referenzen:
Meijaard, E., Sheil, D., Sherman, J., Chua, L., Ni’matullah, S., Wilson, K., Ancrenaz, M., Liswanto D., Wich, S., Goossens, B., Kühl, H.,Voigt, M., Kurniawan, Trianto, A., Priatna, D., Banes, G., Massingham, E., Y., Rayadin, Y., Payne, J., Marshall, A. (2022). Restoring the orangutan in a Whole- or Half-Earth context. Oryx, 1–12. doi:10.1017/S003060532200093X
The Chain: Deforestation Driven by Oil Palm Falls to a Four-Year Low, Chain Reaction Research, [https://chainreactionresearch.com/the-chain-deforestation-driven-by-oil-palm-falls-to-a-four-year-low/], zuletzt aufgerufen am 26.10.22