Neben der Behandlung physischer Probleme, spielen für eine erfolgreiche Rehabilitation und spätere Auswilderung geretteter Orang-Utans auch psychische Krankheitsfaktoren eine entscheidende Rolle. Zu Erleben, wie die Mutter getötet wurde, ein langes Alleinsein danach im Wald, die Gefangenschaft bei Menschen — all dies kann ein Trauma, also eine tiefe psychische Verletzung des Orang-Utans, ausgelöst haben. Und dies kann starke Beeinträchtigungen im Verhalten zur Folge haben.
Die Aufregung ist groß in der BOS Rettungsstation Nyaru Menteng. Gerade gab es einen Anruf der Naturschutzbehörde. Ein junger Orang-Utan wird in einem Dorf im Käfig gehalten. Die Polizei ist auch schon vor Ort. Eine Situation, wie sie die Mitarbeiter von BOS schon hundertfach erlebt haben. Doch diesmal ist der Fall spezieller: Der gefundene Orang-Utan ist ein Albino. So einen Fall hatte es in der 25-jährigen Geschichte von BOS noch nicht gegeben. Als das Rettungsteam das Tier abholt, ist es in schlechter Verfassung. Abgemagert, dehydriert, Blutspuren die von einem Kampf zeugen – und mit fünf Jahren sollte das junge Weibchen eigentlich noch in der Obhut seiner Mutter durch den Regenwald streifen. Dass das Tier Schlimmes erlebt haben muss, ist offensichtlich. Alba, wie das Weibchen inzwischen heißt, will bei seiner Ankunft nicht fressen, nicht trinken und zieht sich völlig verängstigt in sich selbst zurück. Unseren Tierärzten ist klar: Alba ist traumatisiert. Nicht nur ihr Körper braucht intensive Pflege, auch ihre Psyche.
Denn nicht nur Menschen können nach schrecklichen Erlebnissen psychisch erkranken, auch Orang-Utans und andere Menschenaffen können in solchen Fällen eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln.
Was bedeutet eine Posttraumatische Belastungsstörung bei Menschen?
Beim Menschen wird diese sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) in der Regel diagnostiziert, wenn sechs Monate nach einem traumatischen Erlebnis Verhaltensauffälligkeiten auftreten. 80 Prozent aller Menschen erfahren während ihres Lebens ein traumatisches Erlebnis, jedoch erkranken nur fünf bis neun Prozent der Männer und zehn bis 18 Prozent der Frauen an einer PTSD. Nicht jedes Trauma führt also zu einer PTSD.
Es gibt aber Traumata, die eine höhere Präferenz für eine PTSD aufweisen als andere: z. B. zeigen 55,5 Prozent derjenigen, die sexualisierter Gewalt erleben mussten, Symptome einer PTSD, 38,8 Prozent der Menschen, die einen Krieg erlebten und 35,4 Prozent der Kinder, die Misshandlungen oder Vernachlässigungen in der Kindheit erleben. Nach einem Trauma, das eine PTSD auslöst, ist das Leben der Patienten fortan geprägt von wiederkehrenden Erinnerungen – im Wachzustand oder im Schlaf — die sich durch Albträume oder bildhafte Wahrnehmungen ausdrücken. Dies ist sehr belastend für die Menschen. Hinzu kommt meist ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten. Stimuli, die an das Trauma erinnern könnten, werden aktiv gemieden. Ist diese Vermeidung nicht möglich, kann es zu sogenannten Flashbacks kommen. Die Patienten bekommen große Angst, gar Panik, wenn sie eine ähnliche Situation nicht vermeiden können. Zusätzlich beklagen viele Patienten eine emotionale Taubheit. Physiologische Symptome sind Schlafstörungen, Aggressivität, übermäßige Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit sowie Störungen der Konzentration und des Gedächtnisses.
Der Verlauf einer PTSD kann sehr unterschiedlich sein. Ein Drittel der Erkrankten berichtet von Symptomverbesserungen innerhalb des ersten Jahres, ein Drittel von Verbesserungen innerhalb von fünf Jahren und ein Drittel leidet tatsächlich länger als zehn Jahre stark, ohne nennenswerte Verbesserungen an den Symptomen. Therapeutisch wird versucht die PTSD mit einer kognitiven Verhaltenstherapie in den Griff zu bekommen. Dabei sollen fatale Denkstrukturen, ebenso wie posttraumatisches Verhalten reduziert werden, womit ein möglichst beschwerdefreies Leben ermöglicht werden soll.
Auch Orang-Utans können eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln
2007 wurde das erste Mal wissenschaftlich PTSD auch bei Menschenaffen diagnostiziert. Ein internationales Forschungsteam konnte empirisch abgesichert zeigen, dass Schimpansen eine vollständige PTSD entwickeln können (Bradshaw et. al, 2007). Der indonesische Tierarzt Dr. Agus Fahroni, der für BOS auf Borneo arbeitet, stellte im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit mit Orang-Utans fest, dass auch diese Spezies eine voll ausgeprägte PTSD entwickeln kann. Schließlich seien Orang-Utans – wie Menschen auch – Primaten. Daher gäbe es kaum Unterschiede zwischen den kognitiven Prozessen, die an einer Entstehung der PTSD beteiligt seien.
Besonders anschaulich kann eine PTSD bei Orang-Utans am Beispiel von Pony beschrieben werden. Sie erlitt ein Schicksal, das sicherlich als eines der perversesten Beispiele menschlicher Grausamkeit an einem Orang-Utan gesehen werden muss. Bekannt wurde Ponys Schicksal durch eine Reportage des Schauspielers und Umweltaktivisten Hannes Jaenicke und durch Berichte von BOS. Ponys Schicksal zog medial sehr viel Aufmerksamkeit auf sich, doch sie ist nicht der einzige Orang-Utan, der eine solche Leidensgeschichte erleben musste.
Ponys Schicksal
Pony kam 2003 zu BOS, nachdem sie vermutlich schon seit Jahren in einem Bordell im Dorf Kareng Pangi (Zentral-Kalimantan) zwangsprostituiert wurde. Auf Pony aufmerksam wurden die indonesische Naturschutzbehörde BKSDA und BOS bereits 2002, jedoch brauchte es ein Jahr bis Pony aus den Fängen der Bordell-Besitzerin befreit werden konnte.
Pony war damals erst sechs Jahre alt. Über welchen Zeitraum sie genau immer wieder für die „Bedürfnisse“ ihrer Freier vergewaltigt worden war, konnte bis heute nicht geklärt werden. Die Besitzerin des Bordells hatte ihr Ringe und Halsketten umgehängt und ihr das komplette Fell geschoren, um sie für Freier menschlicher wirken zu lassen. Die Dorfbewohner waren einig auf der Seite der Zuhälterin und verteidigten, teils mit Waffen, das Bordell, um eine Befreiung Ponys zu verhindern. Der Hauptgrund für die verzögerte Herausgabe des Orang-Utan-Weibchens. Unvorstellbar, wie sie die ganze Zeit gelitten haben muss. Erst mit 35 bewaffneten Polizisten konnte Pony ihrer Hölle entrissen werden.
Führt man sich vor Augen, dass mehr als die Hälfte aller Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, eine vollausgeprägte PTSD entwickeln und die Wahrscheinlichkeit für eine PTSD bei mehr als 25 erlebten Traumata annähernd 100 Prozent beträgt, ist bei einem gewerblich missbrauchten Orang-Utan die Wahrscheinlichkeit immens hoch, dass dieser, wie ein Mensch auch, an einer PTSD erkrankt. Diese Wahrscheinlichkeiten sind aufgrund der genetischen Nähe von Mensch und Orang-Utan ebenso auf Pony übertragbar. So zeigen auch traumatisierte Orang-Utans PTSD-typische Verhaltensweisen. Oft haben sie eine Scheu gegenüber Menschen, die in der Regel als Trigger-Stimulus für die erlebten Ereignisse wirken, d.h. Menschen sind oft Verursacher jener Traumata und eine Konfrontation mit ihnen löst Flashbacks oder bildhafte Erinnerungen des Traumas aus. Daher vermied Pony zunächst auch in der BOS-Rettungsstation den Kontakt mit Menschen und brauchte viel Zeit, sich zu öffnen.
Ponys Rehabilitation war ein langer, schwieriger Weg. Anfangs hielt es niemand für möglich, dass sie sich irgendwann wieder auch nur annähernd wie ein wilder Orang-Utan verhalten könnte. Selbst gegenüber vertrauten Pflegerinnen konnte sie plötzlich äußerst aggressiv werden. Lediglich gegenüber Männern zeigte sie rhythmische Bewegungen, was jedoch vielmehr auf eine Konditionierung schließt, durch die sie überhaupt so lange im Bordell überleben konnte.
Erst 2013, zehn Jahre nach ihrer Rettung, war Pony soweit rehabilitiert, dass sie auf eine Flussinsel ziehen konnte, wo sie sich in der letzten Stufe ihrer Ausbildung befindet. Inzwischen zeigt sie arttypisch wildes Verhalten, kann eigene Schlafnester bauen, sich gegenüber Artgenossen durchsetzen und ihre Nahrung selbst suchen.
Dr. Fransiska Sulistyo, die Koordinatorin der Tierärzte bei der BOS Foundation, erinnert sich auch an zwei andere junge Orang-Utan-Weibchen, die als Babys zu BOS kamen. Eines wurde verletzt auf einer Palmöl-Plantage gefunden, das andere ohne weitere Hintergrundinformationen von einem Verwaltungsbeamten abgegeben. Nach den Erzählungen von Dr. Sulistyo zeigten sie einige Monate nach ihrer Ankunft im Rettungszentrum stark aggressives Verhalten gegenüber Menschen und anderen Orang-Utans. Außerdem fügten sie sich selbst Verletzungen zu. Vor allem zeige sich diese Art des posttraumatischen Verhaltens bei Orang-Utans, die als Babys Traumata erlitten, so Dr. Sulistyo.
Harlow´s Affenversuche in den 1950er-Jahren — Erste Evidenzen für eine PTSD?
Neben sexueller und körperlicher Gewalt scheint vor allem die Trennung von der Mutter eine traumatische Erfahrung für die Orang-Utans zu sein. Evidenzen für diese Annahme könnten alte psychologische Experimente aus den 1950er- und 1960er-Jahren des US-amerikanischen Psychologen Harry Harlow liefern. Direkt nach der Geburt trennte er Rhesusaffen-Babys von ihren Müttern und teilte sie drei experimentellen Bedingungen zu. In der Kontrollgruppe blieben die Babys bei ihren Müttern. Der ersten Experimentalgruppe wurde eine Assistentin zugeordnet, die sie regelmäßig fütterte. Sonst bestanden für diese Affenbabys keine sozialen Kontakte. In der zweiten Gruppe hatten sie eine Drahtmutter zur Verfügung, bei der sie trinken konnten. Die letzte Gruppe hatte eine Drahtmutter sowie eine Handtuchmutter mit einem affenähnlichen Gesicht. Futter bekamen sie jedoch nur bei der Drahtmutter. Die Ergebnisse waren erschreckend. Bereits im Säuglingsalter entwickelten die Babys, die keine sozialen Kontakte bis auf die Fütterung durch die Assistentin hatten sowie die Babys, die nur eine Drahtmutter hatten, schwere Verhaltensstörungen. Statt spielerischen Verhaltens zeigten sie vor allem emotionale Taubheit und Apathie. Auch die Babys aus der Bedingung mit der Handtuchmutter entwickelten gegenüber der Kontrollgruppe Auffälligkeiten, jedoch erst im Erwachsenenalter (Harlow, 1966). Diese mittlerweile über 50 Jahre alte Studie zeigt in eindrucksvoller und gleichzeitig schockierender Weise, was für dramatische Folgen die Trennung eines Affenbabys von der Mutter mit hoher Wahrscheinlichkeit hat.
So hilft BOS traumatisierten Orang-Utans
Daher ist es für die Arbeit von BOS von immenser Wichtigkeit, dass allein aufgefundene Jungtiere möglichst schnell nach ihrer Rettung soziale Wärme von tatkräftigen Pflegerinnen bekommen, um somit posttraumatisches Verhalten so gut es geht zu verhindern.
Die Kindererziehung ist in der indonesischen Kultur immer noch sehr stark von Frauen geprägt, weshalb sich in den BOS-Rettungsstationen ausschließlich Frauen um die Orang-Utan-Babys kümmern. Viel Zuneigung und Wärme stehen dabei im Zentrum der Aufzucht. Wie bei ihren eigenen Kindern lösen diese Ersatzmütter mit fortschreitendem Alter ihre Bindung und die Orang-Utans beginnen ein selbstständiges Leben – wie es die Orang-Utan-Mutter auch machen würde. Jedoch fällt nicht jedem Orang-Utan die menschliche Nähe am Anfang leicht. Für diese Babys wird ein intensiver Kontakt mit gleichaltrigen Säuglingen in der Station hergestellt, sodass sie sich zuerst untereinander wärmen und miteinander kuscheln können. Dies vereinfacht Schritt für Schritt die Gewöhnung an eine menschliche Ersatzmutter. Im Großen und Ganzen handelt es sich also um eine symptomorientierte Therapie für die kleinen Menschenaffen, die schon einige Erfolge feiern konnte. „Die Mehrheit von ihnen ist nach einiger Zeit in der Lage dem Auswilderungsprogramm beizutreten“, sagt Dr. Agus Fahroni. Und die tolle Nachricht dabei ist: Einige konnten bereits erfolgreich in die Freiheit entlassen werden.
Autoren: Jan Mücher / Francis Schachtebeck