Der spannenden Frage, wie sich Orang-Utans nach ihrer Auswilderung in den Regenwald verhalten, geht die Anthropologin Anna Marzec in ihrer Forschungsarbeit nach. Wie auch Dr. Maria A. von Noordwijk ist Anna Marzec Teil des interdisziplinären Tuanan Orangutan Research Projects der Universität Zürich und arbeitet auch mit der BOS Foundation eng zusammen.
Marzec interessierten vor allem Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Verhalten von Orang-Utans, die vor ihrer Auswilderung bereits Erfahrungen in der freien Wildbahn sammeln konnten und Tieren, die bereits als Babys ihre Rehabilitation im Rettungszentrum starteten. Und wo liegen die Unterschiede zu wilden Orang-Utans?
Durch die direkte Beobachtung von Lernverhalten und Fressverhalten versucht Marzec Antworten zu finden. Lernverhalten wird z. B. durch Objektmanipulation, Exploration (Erkundung, Erforschung der Umgebung) oder soziales Lernen in Form von Peering gemessen. Peering ist das Erlernen von Fähigkeiten durch die Beobachtung und den Austausch mit anderen Individuen.
Die Ergebnisse sind sehr eindeutig. Ausgewilderte Orang-Utans verbringen mehr Zeit mit Fressen von Früchten als wilde Orang-Utans, jedoch fressen sie in der Summe weitaus weniger als diese (Früchte sind die qualitativ hochwertigste Nahrung für Orang-Utans). Auch verbringen ausgewilderte Orang-Utans mehr Zeit mit Exploration und Peering.
Lernen nach der Auswilderung
Daraus schließt Anna Marzec, dass Orang-Utans nach der Auswilderung erst einmal weiter lernen müssen. Ihr Entwicklungsstand reicht zwar zum Überleben in der freien Wildbahn aus, ist aber noch nicht mit dem Niveau von Orang-Utans vergleichbar, die in ihrem natürlichen Lebensraum und unter Anleitung ihrer Mutter aufwachsen konnten.
Um die langfristige Entwicklung dieser Verhaltensweisen unter neuangesiedelten Orang-Utans zu untersuchen, hat sie zwei Beobachtungsgruppen (zehn Kandidaten insgesamt) bestimmt. Eine Gruppe besteht aus Orang-Utans, die im vergangenen Jahr ausgewildert wurden. Die andere Gruppe setzt sich aus ebenfalls neuangesiedelte Orang-Utans zusammen, die jedoch bereits mindestens zweieinhalb Jahre im neuen Habitat überlebt haben. Dabei konnten folgende Phänomene beobachtet werden: Die neuen Orang-Utans fressen weniger Früchte, verbringen aber mehr Zeit damit. Die Unterschiede im Peering und in der Exploration sind nicht signifikant, jedoch zeichnet sich ein ähnlicher Unterschied, wie zwischen neuangesiedelten und natürlich aufgewachsenen Orang-Utans ab.
Abschauen bei den Wilden
Je länger Orang-Utans also in ihrem neuen Habitat leben, desto mehr ähnelt ihr Verhalten dem der wilden Orang-Utans. Peering scheint für frisch ausgewilderte Orang-Utans von zentraler Bedeutung zu sein. Sie zeigen dieses Verhalten weitaus häufiger als wilde Orang-Utans. Sie suchen vermehrt bei den wilden Artgenossen nach Vorbildern, um von ihnen zu lernen. Daher scheint es von Vorteil zu sein, Orang-Utans in Habitaten anzusiedeln, in denen solche „Peers“ zu finden sind. Dadurch können dann die neuen wilden Orang-Utans Stück für Stück ihren Entwicklungsstand anpassen.
Anna Marzecs Erkenntnisse sind enorm wichtig, um den komplexen Prozess der Auswilderung bzw. Neuansiedlung von Orang-Utans in Zukunft effektiver gestalten zu können. Ihr Fazit: Neuansiedlung ist möglich. Leider muss jedoch berücksichtigt werden, dass hierbei auch eine höhere Sterblichkeit, als bei wildlebenden Orang-Utans zu verzeichnen ist. Der Königsweg ist also weiterhin ein besserer Schutz des ursprünglichen Lebensraumes der Menschenaffen. Dann wären Auswilderungen und Neuansiedlungen gar nicht erst nötig.
Gastautor: Jan Mücher
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