Es gibt eine Nachricht, die wir neun Monate geheim gehalten haben. Aber jetzt wollen wir nicht länger warten! Auch wenn sich am Grund unserer Geheimniskrämerei nichts geändert hat. Jetzt reicht es uns! Denn: Es gibt ein neues wildes Baby im Schutzwald Bukit Batikap!!! Und warum haben wir das nicht gleich verkündet? Weil Mama Nobri ihr Kleines so gut vor uns versteckt, dass wir noch kein Foto machen konnten.
Es war der 27. Januar 2020. Unser Beobachtungsteam war wie immer im Schutzwald Bukit Batikap unterwegs und hielt Ausschau nach unseren ausgewilderten Orang-Utans. Da entdeckten sie, nicht weit vom Flussufer des Joloi entfernt, Orang-Utans in einem Baum. Bei genauerem Hinsehen erkannten sie Manggo (15) mit ihrem 2019 erstmals gesichteten Baby. Daneben saß Nobri. So wie wir sie kennen: Empört über die Sichtung von Menschen, tat sie ihren Ärger mit lauten Kussgeräuschen kund. Doch Moment mal – etwas war anders: An Nobris Seite klammerte sich ein kleines, zartes Baby! Nobri war Mutter geworden! Und wir wurden Zeugen des ersten wildgeborenen Orang-Utan-Kindes des Jahres 2020. Es ist das 14. Baby, das in Bukit Batikap geboren wurde.
Doch leider wollte Nobri ihr Glück nicht mit uns teilen. Sie verbrachte den ganzen Tag im Baldachin des Regenwaldes, gut versteckt hinter Laub und Geäst. Unser Team konnte weder ein Foto von Mutter und Kind machen, noch das Geschlecht des Babys bestimmen. Wir hatten gehofft, dass sich bald eine weitere Gelegenheit ergeben würde, ein Foto zu machen. Doch bis heute hat Nobri das verhindert. Und so sehr uns das wurmt, sind wir eigentlich recht stolz auf Nobri. Denn ihr Verhalten ist mustergültig für einen wilden Orang-Utan, der nichts von uns Menschen wissen will. Und überraschen tut es uns bei Nobri auch nicht. Lebt sie doch seit ihrer Geburt wild und (fast) frei. Trotzdem ist sie ein BOS-Schützling. Wieso? Das erzählen wir jetzt – sozusagen zum Ausgleich für das fehlende Foto – etwas ausführlicher.
Shellis freie Tochter
Nobri erblickte am 29. August 2005 auf der Vorauswilderungsinsel Kaja das Licht der Welt. Doch ihre Geschichte beginnt eigentlich viel früher – mit der Ankunft des achtjährigen Orang-Utan-Mädchens Shelli am 30. Mai 2001 in Nyaru Menteng. Shelli lebte bis dahin viele Jahre als illegales Haustier in Indonesiens Hauptstadt Jakarta. Dann wurde sie gerettet und zu BOS gebracht.
Obwohl sie all die Jahre in völliger Abhängigkeit von Menschen gelebt hatte, holte Shelli in der BOS-Waldschule das nötige Wissen erstaunlich schnell auf. In nur zwei Jahren war sie soweit: Ab 2003 durfte Shelli auf der Vorauswilderungsinsel ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. Und genau dort gebar sie 2005 ihre erste Tochter Nobri, die auf Kaja aufwuchs. Genau wie ein wilder Orang-Utan im Regenwald.
Shelli war eine großartige Mutter, die die kleine Nobri zu einem vollkommen selbstständigen Waldmenschen aufzog. Ihre Unabhängigkeit musste Nobri dann auch bereits im Alter von fünf Jahren unter Beweis stellen. Denn Shelli schenkte 2010 ihrer Tochter Forest das Leben. Und damit spielte Nobri fortan maximal die zweite Geige in Shellis Leben. Doch das war kein Problem für die immer schon freiheitsliebende Nobri.
Zu wild für die Auswilderung
Doch genau diese Unabhängigkeit und ihre starke Abneigung gegenüber Menschen wurden Nobri 2013 zum Verhängnis. Denn die inzwischen Achtjährige war ausgewählt worden, gemeinsam mit Mutter Shelli und Schwester Forest in Bukit Batikap ausgewildert zu werden. Aber Nobri ließ sich nicht einfangen. Sie war zu vorsichtig und zu schnell, so dass unsere Tierärzte trotz unzähliger Versuche aufgeben mussten. Nobri blieb auf der Insel – und ein anderer Orang-Utan durfte an ihrer Stelle in die Wildnis umziehen.
Nobris großer Moment sollte noch drei Jahre auf sich warten lassen. Als unsere Tierärzte die Kandidaten für die zwölfte Auswilderung aus Nyaru Menteng vorbereiteten, bot sich eine Gelegenheit – und unser Team ergriff sie. Sie erwischten Nobri vollkommen entspannt und ahnungslos und konnten sie endlich einfangen. So begann das Abenteuer Regenwald für dieses stolze Orang-Utan-Weibchen am 22. April 2016 in Bukit Batikap.
Mit dem Moment der Käfigöffnung bewies Nobri ihre wilden Fähigkeiten. Und stellte unsere Beobachtungsteams vor enorme Herausforderungen. Kein Baum war hoch genug für sie, kein Dickicht zu dicht. Und wütende Kussgeräusche ertönten, sobald unsere Mitarbeiter ihr doch einmal zu nahe kamen. Dabei taten die doch nur ihren Job.
Große Sorgen
Im November 2017 gelang es unserem Team endlich einmal wieder, Nobri zu beobachten. Doch obwohl sie sich von ihrer starken, unabhängigen Seite präsentierte, begannen wir uns Sorgen um die Zwölfjährige zu machen. An ihrer Achselhöhle war eine seltsame Schwellung zu erkennen. Weil ihr Verhalten aber völlig normal schien, entschied das Team, vorerst nicht einzugreifen, Nobri aber weiterhin zu beobachten.
Mit der Zeit jedoch wurden die Schwellungen an ihren Achseln größer. Und schlimmer noch: Ihr Kehlsack schwoll an. In der Regel ein Zeichen für eine bakterielle Entzündung des Kehlsacks und der Atemwege, die sehr schmerzhaft ist und leider oft tödlich endet. Wir mussten schnell eingreifen, obwohl Nobri noch immer kraftvoll agierte und man ihr keinerlei Schmerzen ansah.
Es war Ende 2018, als unser Beobachtungsteam Hilfe in Nyaru Menteng anforderte. Sofort machten sich der beste Scharfschütze für Betäubungspfeile, Pak Sugi, gemeinsam mit Tierarzt Greggy auf den drei Tage langen, beschwerlichen und gefährlichen Weg in das Schutzgebiet. Nobri wurde sediert und ins Monitoring-Camp gebracht, wo ihre Behandlung begann. Mitten im Dschungel wurden zahlreiche Operationen durchgeführt, an die sich eine wochenlange Antibiotikakur schloss.
Zweieinhalb Monate musste Nobri im Camp behandelt werden. Zweieinhalb Monate, die für die wilde Nobri nur schwer zu ertragen waren. Doch schließlich entschied der Tierarzt: Nobri darf wieder in die Freiheit zurück. Leider ist die Gefahr eines Rückfalls bei bakteriellen Kehlsackentzündungen sehr hoch. Doch fürs erste hatte Nobri den Kampf gewonnen.
Mit dem festen Vorhaben, Nobri im Auge zu behalten, wurde sie Anfang 2019 erneut ausgewildert.
Doch auch Nobri hatte einen Plan: So schnell und so weit wie möglich weg von allem was menschlich ist.
Versteckspiel im Regenwald
Wie sehr wir uns auch bemühten, von Nobri gab es keine Spur. Erst im Mai fanden wir sie wieder. Und Nobri war nicht erfreut darüber.
Sofort schallten dem Team Kussgeräusche entgegen und erbost rüttelte Nobri an den Zweigen. Aber unser Team wusste, dass es dran bleiben musste. Je näher wir kamen, umso größer wurden unsere Ängste. Es schien, als sei ihr Kehlsack wieder geschwollen. War die Entzündung zurückgekehrt? Als die Nacht kam, mussten wir die Beobachtung einstellen. Und als wir früh am nächsten Tag wieder zurückkehrten, gab es keine Spur mehr von Nobri…
Unsere Sorge wuchs Woche für Woche, Monat für Monat. Egal wo wir suchten, egal wo wir unterwegs waren, Nobri war unauffindbar. Erst sechs Monate später hatten wir Erfolg. Wir empfingen ein Funksignal von Nobri! Aber es war schwach und setzte immer wieder aus.
Wir hatten große Angst. Es war der 27. Januar 2020 – genau ein Jahr war vergangen, seitdem wir Nobri nach ihrer Behandlung wieder ausgewildert hatten. Wir suchten und folgten dem Signal. Und dann schließlich entdeckten wir Manggo in Begleitung von Nobri und ihrem süßen Geheimnis.
Auch als Mutter blieb Nobri sich treu: So viel Abstand zu Menschen zu halten, wie möglich. In den höchsten Wipfeln der Bäume verbrachte sie den Tag, so gut versteckt, dass wir nicht einmal ein Foto vorzeigen können. Und das ist bis heute so geblieben. So gern wir der Welt auch ihr Baby vorstellen würden, so sind wir doch auch stolz auf unsere Nobri. Denn genau so ein Verhalten wünschen wir uns von den Orang-Utans: Wild, frei, unabhängig und weit weg von Menschen sollen sie im Regenwald leben.
Nobris Baby ist nicht nur der erste wildgeborene Orang-Utan des Jahres 2020 in unseren Schutzgebieten, sondern ein weiteres Baby der zweiten Generation des BOS-Rehabilitationsprogramms.
Fast 20 Jahre nachdem Shelli aus dem Großstadtdschungel von Jakarta gerettet wurde, ist nun ihr Enkel frei im wilden Regenwald Borneos geboren worden. Nobris Geschichte zeigt uns, dass es immer Hoffnung gibt. Ganz gleich, wie unüberwindbar die Hindernisse erscheinen mögen – wenn wir ihnen eine Möglichkeit bieten, werden die Orang-Utans auch einen Weg finden.
Werden auch Sie zum BOS-Unterstützer. Mit Ihrer Spende helfen Sie den Orang-Utans, dem Regenwald und damit auch unserem Klima. Jeder Beitrag hilft.