23. September 2020

Die wilde Nobri – eine Geschichte die Hoff­nung schenkt

Es gibt eine Nach­richt, die wir neun Monate geheim gehalten haben. Aber jetzt wollen wir nicht länger warten! Auch wenn sich am Grund unserer Geheim­nis­krä­merei nichts geän­dert hat. Jetzt reicht es uns! Denn: Es gibt ein neues wildes Baby im Schutz­wald Bukit Batikap!!! Und warum haben wir das nicht gleich verkündet? Weil Mama Nobri ihr Kleines so gut vor uns versteckt, dass wir noch kein Foto machen konnten. 

Es war der 27. Januar 2020. Unser Beob­ach­tungs­team war wie immer im Schutz­wald Bukit Batikap unter­wegs und hielt Ausschau nach unseren ausge­wil­derten Orang-Utans. Da entdeckten sie, nicht weit vom Fluss­ufer des Joloi entfernt, Orang-Utans in einem Baum. Bei genauerem Hinsehen erkannten sie Manggo (15) mit ihrem 2019 erst­mals gesich­teten Baby. Daneben saß Nobri. So wie wir sie kennen: Empört über die Sich­tung von Menschen, tat sie ihren Ärger mit lauten Kuss­ge­räu­schen kund. Doch Moment mal – etwas war anders: An Nobris Seite klam­merte sich ein kleines, zartes Baby! Nobri war Mutter geworden! Und wir wurden Zeugen des ersten wild­ge­bo­renen Orang-Utan-Kindes des Jahres 2020. Es ist das 14. Baby, das in Bukit Batikap geboren wurde. 

Doch leider wollte Nobri ihr Glück nicht mit uns teilen. Sie verbrachte den ganzen Tag im Balda­chin des Regen­waldes, gut versteckt hinter Laub und Geäst. Unser Team konnte weder ein Foto von Mutter und Kind machen, noch das Geschlecht des Babys bestimmen. Wir hatten gehofft, dass sich bald eine weitere Gele­gen­heit ergeben würde, ein Foto zu machen. Doch bis heute hat Nobri das verhin­dert. Und so sehr uns das wurmt, sind wir eigent­lich recht stolz auf Nobri. Denn ihr Verhalten ist muster­gültig für einen wilden Orang-Utan, der nichts von uns Menschen wissen will. Und über­ra­schen tut es uns bei Nobri auch nicht. Lebt sie doch seit ihrer Geburt wild und (fast) frei. Trotzdem ist sie ein BOS-Schütz­ling. Wieso? Das erzählen wir jetzt – sozu­sagen zum Ausgleich für das fehlende Foto – etwas ausführlicher.

Shellis freie Tochter

Nobri erblickte am 29. August 2005 auf der Voraus­wil­de­rungs­insel Kaja das Licht der Welt. Doch ihre Geschichte beginnt eigent­lich viel früher – mit der Ankunft des acht­jäh­rigen Orang-Utan-Mädchens Shelli am 30. Mai 2001 in Nyaru Menteng. Shelli lebte bis dahin viele Jahre als ille­gales Haus­tier in Indo­ne­siens Haupt­stadt Jakarta. Dann wurde sie gerettet und zu BOS gebracht.

Shelli
Shelli

Obwohl sie all die Jahre in völliger Abhän­gig­keit von Menschen gelebt hatte, holte Shelli in der BOS-Wald­schule das nötige Wissen erstaun­lich schnell auf. In nur zwei Jahren war sie soweit: Ab 2003 durfte Shelli auf der Voraus­wil­de­rungs­insel ihre Fähig­keiten unter Beweis stellen. Und genau dort gebar sie 2005 ihre erste Tochter Nobri, die auf Kaja aufwuchs. Genau wie ein wilder Orang-Utan im Regenwald. 

Shelli war eine groß­ar­tige Mutter, die die kleine Nobri zu einem voll­kommen selbst­stän­digen Wald­men­schen aufzog. Ihre Unab­hän­gig­keit musste Nobri dann auch bereits im Alter von fünf Jahren unter Beweis stellen. Denn Shelli schenkte 2010 ihrer Tochter Forest das Leben. Und damit spielte Nobri fortan maximal die zweite Geige in Shellis Leben. Doch das war kein Problem für die immer schon frei­heits­lie­bende Nobri. 

Zu wild für die Auswilderung

Doch genau diese Unab­hän­gig­keit und ihre starke Abnei­gung gegen­über Menschen wurden Nobri 2013 zum Verhängnis. Denn die inzwi­schen Acht­jäh­rige war ausge­wählt worden, gemeinsam mit Mutter Shelli und Schwester Forest in Bukit Batikap ausge­wil­dert zu werden. Aber Nobri ließ sich nicht einfangen. Sie war zu vorsichtig und zu schnell, so dass unsere Tier­ärzte trotz unzäh­liger Versuche aufgeben mussten. Nobri blieb auf der Insel – und ein anderer Orang-Utan durfte an ihrer Stelle in die Wildnis umziehen. 

Nobri vor ihrer Auswilderung
Nobri vor ihrer Auswilderung

Nobris großer Moment sollte noch drei Jahre auf sich warten lassen. Als unsere Tier­ärzte die Kandi­daten für die zwölfte Auswil­de­rung aus Nyaru Menteng vorbe­rei­teten, bot sich eine Gele­gen­heit – und unser Team ergriff sie. Sie erwischten Nobri voll­kommen entspannt und ahnungslos und konnten sie endlich einfangen. So begann das Aben­teuer Regen­wald für dieses stolze Orang-Utan-Weib­chen am 22. April 2016 in Bukit Batikap.

Nobris Käfig ist auf
Nobris Käfig ist auf

Mit dem Moment der Käfig­öff­nung bewies Nobri ihre wilden Fähig­keiten. Und stellte unsere Beob­ach­tungs­teams vor enorme Heraus­for­de­rungen. Kein Baum war hoch genug für sie, kein Dickicht zu dicht. Und wütende Kuss­ge­räu­sche ertönten, sobald unsere Mitar­beiter ihr doch einmal zu nahe kamen. Dabei taten die doch nur ihren Job.

Immer ganz weit oben
Immer ganz weit oben

Große Sorgen

Im November 2017 gelang es unserem Team endlich einmal wieder, Nobri zu beob­achten. Doch obwohl sie sich von ihrer starken, unab­hän­gigen Seite präsen­tierte, begannen wir uns Sorgen um die Zwölf­jäh­rige zu machen. An ihrer Achsel­höhle war eine selt­same Schwel­lung zu erkennen. Weil ihr Verhalten aber völlig normal schien, entschied das Team, vorerst nicht einzu­greifen, Nobri aber weiterhin zu beobachten. 

Mit der Zeit jedoch wurden die Schwel­lungen an ihren Achseln größer. Und schlimmer noch: Ihr Kehl­sack schwoll an. In der Regel ein Zeichen für eine bakte­ri­elle Entzün­dung des Kehl­sacks und der Atem­wege, die sehr schmerz­haft ist und leider oft tödlich endet. Wir mussten schnell eingreifen, obwohl Nobri noch immer kraft­voll agierte und man ihr keinerlei Schmerzen ansah.

Der Kehlsack ist deutlich angeschwollen
Der Kehl­sack ist deut­lich angeschwollen

Es war Ende 2018, als unser Beob­ach­tungs­team Hilfe in Nyaru Menteng anfor­derte. Sofort machten sich der beste Scharf­schütze für Betäu­bungs­pfeile, Pak Sugi, gemeinsam mit Tier­arzt Greggy auf den drei Tage langen, beschwer­li­chen und gefähr­li­chen Weg in das Schutz­ge­biet. Nobri wurde sediert und ins Moni­to­ring-Camp gebracht, wo ihre Behand­lung begann. Mitten im Dschungel wurden zahl­reiche Opera­tionen durch­ge­führt, an die sich eine wochen­lange Anti­bio­ti­kakur schloss.

Not-OP im Wald
Not-OP im Wald

Zwei­ein­halb Monate musste Nobri im Camp behan­delt werden. Zwei­ein­halb Monate, die für die wilde Nobri nur schwer zu ertragen waren. Doch schließ­lich entschied der Tier­arzt: Nobri darf wieder in die Frei­heit zurück. Leider ist die Gefahr eines Rück­falls bei bakte­ri­ellen Kehl­sa­ck­ent­zün­dungen sehr hoch. Doch fürs erste hatte Nobri den Kampf gewonnen.
Mit dem festen Vorhaben, Nobri im Auge zu behalten, wurde sie Anfang 2019 erneut ausge­wil­dert.

Die zweite Auswilderung
Die zweite Auswilderung

Doch auch Nobri hatte einen Plan: So schnell und so weit wie möglich weg von allem was mensch­lich ist. 

Versteck­spiel im Regenwald

Wie sehr wir uns auch bemühten, von Nobri gab es keine Spur. Erst im Mai fanden wir sie wieder. Und Nobri war nicht erfreut darüber.
Sofort schallten dem Team Kuss­ge­räu­sche entgegen und erbost rüttelte Nobri an den Zweigen. Aber unser Team wusste, dass es dran bleiben musste. Je näher wir kamen, umso größer wurden unsere Ängste. Es schien, als sei ihr Kehl­sack wieder geschwollen. War die Entzün­dung zurück­ge­kehrt? Als die Nacht kam, mussten wir die Beob­ach­tung einstellen. Und als wir früh am nächsten Tag wieder zurück­kehrten, gab es keine Spur mehr von Nobri…

Unsere Sorge wuchs Woche für Woche, Monat für Monat. Egal wo wir suchten, egal wo wir unter­wegs waren, Nobri war unauf­findbar. Erst sechs Monate später hatten wir Erfolg. Wir empfingen ein Funk­si­gnal von Nobri! Aber es war schwach und setzte immer wieder aus. 

Wir hatten große Angst. Es war der 27. Januar 2020 – genau ein Jahr war vergangen, seitdem wir Nobri nach ihrer Behand­lung wieder ausge­wil­dert hatten. Wir suchten und folgten dem Signal. Und dann schließ­lich entdeckten wir Manggo in Beglei­tung von Nobri und ihrem süßen Geheimnis. 

Manggo
Manggo

Auch als Mutter blieb Nobri sich treu: So viel Abstand zu Menschen zu halten, wie möglich. In den höchsten Wipfeln der Bäume verbrachte sie den Tag, so gut versteckt, dass wir nicht einmal ein Foto vorzeigen können. Und das ist bis heute so geblieben. So gern wir der Welt  auch ihr Baby vorstellen würden, so sind wir doch auch stolz auf unsere Nobri. Denn genau so ein Verhalten wünschen wir uns von den Orang-Utans: Wild, frei, unab­hängig und weit weg von Menschen sollen sie im Regen­wald leben. 

Nobris Baby ist nicht nur der erste wild­ge­bo­rene Orang-Utan des Jahres 2020 in unseren Schutz­ge­bieten, sondern ein weiteres Baby der zweiten Gene­ra­tion des BOS-Rehabilitationsprogramms.
Fast 20 Jahre nachdem Shelli aus dem Groß­stadt­dschungel von Jakarta gerettet wurde, ist nun ihr Enkel frei im wilden Regen­wald Borneos geboren worden. Nobris Geschichte zeigt uns, dass es immer Hoff­nung gibt. Ganz gleich, wie unüber­windbar die Hinder­nisse erscheinen mögen – wenn wir ihnen eine Möglich­keit bieten, werden die Orang-Utans auch einen Weg finden.

 

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